Estland
Die Mitgliedsorganisation des IGB in Estland ist der Gewerkschaftsbund EAKL.
Estland ratifizierte 1994 das Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit
Vereinigungsfreiheit
Das Recht auf die Gründung von und den Beitritt zu Gewerkschaften nach eigener Wahl sowie das Recht der Gewerkschaften, ungehindert zu arbeiten und ihre Aktivitäten ohne unzulässige Eingriffe zu verrichten.
vgl. IGB-Leitfaden für internationale Gewerkschaftsrechte
und den Schutz des Vereinigungsrechtes (1948) und 1994 das Übereinkommen Nr. 98 über das Vereinigungsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen (1949).
Rechtslage
Vereinigungsfreiheit / Vereinigungsrecht
Vereinigungsfreiheit
Die Vereinigungsfreiheit ist in der Verfassung verankert.
Die Vereinigungsfreiheit ist gesetzlich geregelt.
Gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung
Gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung ist gesetzlich verboten.
Gesetzliche Hindernisse für die Gründung von Organisationen
- Sonstige Formalitäten oder Bestimmungen, die die Gründung einer Organisation übermäßig verzögern oder erheblich behindern
- Das Einkommenssteuergesetz verpflichtet die Gewerkschaften dazu, eine Liste sämtlicher Mitglieder, einschließlich ihrer persönlichen Kennnummer, zur Verfügung zu stellen, es sei denn ihre Mitglieder erheben Einwände dagegen und verwirken somit die Möglichkeit, ihre Gewerkschaftsbeiträge von der Steuer abzusetzen.
Tarifverhandlungsrecht
Tarifverhandlungsrecht
Das Tarifverhandlungsrecht wird gesetzlich anerkannt.
Bestimmungen, die Tarifverhandlungen und deren Wirksamkeit untergraben
- Fehlen eines geeigneten Verfahrens zur Unterstützung und Förderung des Tarifprozesses
- Nach Angaben von Statistics Estonia gab es im zweiten Quartal 2019 667.700 Erwerbstätige im Land. Die oben genannte Zahl der von Kollektivverträgen erfassten Arbeitnehmer würde somit 13,3 Prozent der Gesamtzahl der Beschäftigten in Estland ausmachen. Der IAO-Sachverständigenausschuss forderte die Regierung daher auf, die vollständige Entwicklung und Nutzung von Tarifverhandlungsmechanismen zu fördern, um die Zahl der von Tarifverträgen erfassten Arbeitnehmer zu erhöhen.
Streikrecht
Streikrecht
Das Streikrecht ist in der Verfassung verankert.
Das Streikrecht ist arbeitsrechtlich geregelt.
Einschränkungen oder Verbot von Streiks in bestimmten Sektoren
- Übertriebene Beschränkungen für „Staatsbedienstete“
- Allen Beamten und Beschäftigten in Regierungseinrichtungen sowie in anderen staatlichen Gremien und Kommunalverwaltungen wird das Streikrecht verweigert. Die IAO, der Europarat und sogar der Ombudsmann des Landes haben dies kritisiert, und die Regierung hat bereits vor acht Jahren die Aufhebung dieses Streikverbots zugesagt. Im Juni 2008 hat der IAO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit einen endgültigen Bericht im Zusammenhang mit der Klage des estnischen Gewerkschaftsbundes EAKL verabschiedet. Der Ausschuss erwartet von der Regierung rasche Gesetzesänderungen, um das Gesetz über die Beilegung kollektiver Konflikte in Einklang mit den IAO-Normen zu bringen. Obwohl am geltenden Recht keine Änderungen vorgenommen wurden, hat das Justizministerium der IAO mitgeteilt, dass es einen Vorschlag zur Modernisierung des öffentlichen Dienstes vorbereitet habe, der eine neue und enger gefasste Definition des Begriffs "Staatsbedienstete" vorsehe, unter die nur noch diejenigen fallen würden, die eine Autoritätsfunktion im Namen des Staates erfüllen. Im Januar 2008 hatte das Justizministerium jedoch bestätigt, dass die Regierungskoalition plane, das Streikverbot für all diejenigen beizubehalten, die gemäß dem neuen Gesetz für den öffentlichen Dienst weiterhin als Staatsbedienstete betrachtet werden.
- Willkürliche Festlegung oder übermäßig lange Liste „wesentlicher Dienste“, in denen Streiks untersagt oder stark eingeschränkt sind
- Die Regierung ist gesetzlich befugt, eine Liste der Unternehmen und sonstigen Gremien aufzustellen, die die Grundbedürfnisse der Bevölkerung und der Volkswirtschaft decken. Obwohl das Gesetz über die Beilegung kollektiver Konflikte bereits vor 13 Jahren verabschiedet wurde, liegt eine solche Liste bisher immer noch nicht vor.
Praxis
Die unabhängige estnische Seeleutegewerkschaft EMSA hat im Jahr 2015 in ihrem Tarifvertrag
Tarifvertrag
Eine gewöhnlich schriftliche Vereinbarung, die die Ergebnisse von Kollektiv-/Tarifverhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern enthält.
vgl. Kollektiv-/Tarifverhandlungen
mit der AS Tallink Grupp und deren Subunternehmern vereinbart, dass das Unternehmen einen jährlichen Pauschalbetrag in den Versorgungsfonds für seine Beschäftigten einzahlt. Diese Vereinbarung wurde bis 2018 eingehalten, aber im Jahr 2019 hat der Arbeitgeber plötzlich angekündigt, dass für 2019 keine Zahlung vorgenommen würde.
Bei den Zusammenkünften mit der Gewerkschaft zur Klärung der Angelegenheit hat der Arbeitgeber Zugang zu den persönlichen Informationen der Beschäftigten bezüglich des Versorgungsfonds gefordert, was einen Verstoß gegen das Datenschutzgesetz darstellt. Darüber hinaus hat der Arbeitgeber versucht, den Gewerkschaften Anweisungen zur Verwaltung des Fonds zu erteilen. Die Gewerkschaften haben sich derart eklatante Eingriffe verbeten.
Obwohl für das Jahr 2020 eine Einigung erzielt wurde, beabsichtigt die EMSA nach wie vor, den Fall vor Gericht zu bringen, um die Einhaltung des Tarifvertrages seitens der AS Tallink Grupp sicherzustellen. Der Estnische Gewerkschaftsbund hat Besorgnis über diese eindeutige Verletzung des Tarifvertrages und den Versuch, Gewerkschaftsaktivitäten zu kontrollieren und auf vertrauliche Arbeitnehmerinformationen zuzugreifen, geäußert.
Die unabhängige estnische Seeleutegewerkschaft EMSA hat im Juni 2018 während laufender Tarifverhandlungen berichtet, dass Mart Loik, Mitglied der Geschäftsführung von TS Laevad, ein Treffen mit Mitarbeitern organisiert und vorgeschlagen habe, direkt einen Tarifvertrag
Tarifvertrag
Eine gewöhnlich schriftliche Vereinbarung, die die Ergebnisse von Kollektiv-/Tarifverhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern enthält.
vgl. Kollektiv-/Tarifverhandlungen
mit ihnen abzuschließen und die EMSA zu umgehen. Er bot dieselben Konditionen an, die auch die Gewerkschaft forderte und die die Geschäftsführung im Zuge der Tarifverhandlungen bis dahin abgelehnt hatte.
Die EMSA hat unverzüglich eine öffentliche Entschuldigung von TS Laevad verlangt und dem Unternehmen vorgeworfen, falsche Lohngruppen für EMSA-Mitglieder anzugeben und zu implizieren, dass die Forderungen der EMSA überzogen seien und sie nur Interesse an ihren eigenen Mitgliedern habe. Die EMSA fordert u.a. eine Lohnerhöhung um 50 Cent auf 5 Euro pro Stunde, was immer noch 2 Euro weniger ist als bei anderen Schifffahrtsunternehmen, mit denen die EMSA Tarifverträge abgeschlossen hat. Laut EMSA habe sich die Geschäftsführung von TS Laevad zudem unethisch verhalten, indem sie Beschäftigten Anreize angeboten habe, um sie dazu zu veranlassen, keinen Tarifvertrag
Tarifvertrag
Eine gewöhnlich schriftliche Vereinbarung, die die Ergebnisse von Kollektiv-/Tarifverhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern enthält.
vgl. Kollektiv-/Tarifverhandlungen
zu unterschreiben.
Die Gewerkschaft erwägt, TS Laevad, eine Tochter des Hafens Tallinn (Tallinna Sadam), wegen Falschdarstellung vor Gericht zu bringen und den Tarifkonflikt fortzusetzen, obwohl es nicht unweigerlich zu Streiks kommen müsse.
Im Oktober 2015 hat Transiidikeskuse AS, ein Stauereiunternehmen, den Vertrag eines Beschäftigten unmittelbar nach dessen Wahl zum Gewerkschaftsvertreter gekündigt. Der Fall kam vor Gericht, das die Entlassung am 29. Juni 2016 für unrechtmäßig befand. Noch am selben Tag wurde seine Stelle jedoch gestrichen. Am 30. Oktober 2017 kam das Gericht erneut zu dem Schluss, dass die Gründe für seine Entlassung unzulässig seien und seine Entlassung somit unrechtmäßig sei. Er wurde jedoch nicht wieder eingestellt. Stattdessen untersagte ihm die Geschäftsführung das Betreten des Betriebsgeländes, obwohl sein Lohn weitergezahlt wurde. Zur Klärung der Angelegenheit wurde die Arbeitsaufsicht Arbeitsaufsicht Eine Behörde, die für die Einhaltung der Arbeitsgesetze und der gesetzlichen Bestimmungen zum Arbeitnehmerschutz zuständig ist und zu diesem Zweck Betriebsinspektionen durchführt. eingeschaltet, aber zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels lag noch kein Entscheid vor. Transiidikeskuse AS weigert sich nach wie vor, die rechtmäßig gegründete Gewerkschaft anzuerkennen und blockt sämtliche Versuche, einen Tarifvertag auszuhandeln, ab.
Der Bund Estnischer Gewerkschaften (EAKL) berichtet, dass Gewerkschaften oft grundsätzliche Schwierigkeiten haben, die Rechte von Beschäftigten zu verteidigen. Diese haben oft mit Gerichtsprozessen zu tun: Der Nachweis einer Diskriminierung vor Arbeitsgerichten ist ein neues Phänomen, und es gibt noch wenig Erfahrung mit der Behandlung solcher Fälle. Es ist nach wie vor relativ einfach, Gewerkschaftsaktivisten vom Arbeitsplatz zu entfernen, weil gemäß dem Arbeitsvertragsgesetz (ECA) keine Verpflichtung besteht, einen entlassenen Gewerkschaftsvertreter wieder einzustellen, wenn dies nach Abwägung der Interessen beider Parteien nicht sinnvoll erscheint. Abfindungen werden oft von Gerichten gesenkt, obwohl das ECA bestimmt, dass diese angemessen zu sein haben. Gerichtsverfahren sind langwierig und teuer, während für Schadensersatzforderungen im Falle rechtswidriger Kündigung eines Arbeitsvertrages relativ hohe Gebühren fällig sind.
Der Gewerkschaftsbund Confederation of Estonian Trade Unions (EAKL) berichtet, dass gewerkschaftsfeindliches Verhalten im privaten Sektor weit verbreitet ist. In manchen Unternehmen rät man Arbeitnehmern davon ab, eine Gewerkschaft zu gründen, droht mit Entlassung oder Lohnkürzung, oder man verspricht ihnen Zuschüsse, wenn sie keiner Gewerkschaft beitreten. In manchen Fällen werden „gelbe Gewerkschaften“ gegründet.
Die Durchsetzung von Gesetzen bleibt in den meisten Fällen den Arbeitsaufsichtsbehörden überlassen, die nur selten Fällen von gewerkschaftsfeindlichem Verhalten nachgehen. Einem Rechtsstreit folgt womöglich ein Kampf um die Durchsetzung der Entscheidung des Gerichts oder Schlichtungsausschusses. Als zum Beispiel einem unrechtmäßig entlassenen gewerkschaftlichen Vertrauensmann der Anspruch auf Wiedereinstellung zugesprochen wurde, es ihm aber trotzdem nicht gestattet wurde, wieder an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren, musste er einen privaten Rechtsbeistand hinzuziehen, der 50% des monatlichen Mindestlohns als Kaution verlangte.
Schätzungen zufolge sind zwischen 20 und 25% der Beschäftigungsverhältnisse durch Tarifverträge abgedeckt. Sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor versuchen die Arbeitgeber, Tarifverhandlungen zu umgehen oder zu verzögern. Die Wirtschaftskrise erschwerte die Verhandlungen, und sogar Unternehmen in der Profitzone verlangten Konzessionen oder hielten sich nicht an Vereinbarungen. Im Mai stellte zum Beispiel das Transportunternehmen Tallink die Zahlung von tariflich vereinbarten Lohnzuschlägen ein und fragte erst im Anschluss daran bei den Gewerkschaften um neue Verhandlungen nach.