Niederlande
Die Mitgliedsorganisationen des IGB in den Niederlanden sind der Christelijk Nationaal Vakverbond und die Federatie Nederlandse Vakbeweging.
Die Niederlande ratifizierten 1950 das Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes (1948) und 1993 das Übereinkommen Nr. 98 über das Vereinigungsrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen (1949).
Rechtslage
Vereinigungsfreiheit / Vereinigungsrecht
Vereinigungsfreiheit
Die Vereinigungsfreiheit ist in der Verfassung verankert.
Gewerkschaftsfeindliche Diskriminierung
Die Beschäftigten sind vor gewerkschaftsfeindlicher Diskriminierung nicht ausdrücklich gesetzlich geschützt.
Tarifverhandlungsrecht
Tarifverhandlungsrecht
Das Tarifverhandlungsrecht wird gesetzlich anerkannt.
Streikrecht
Streikrecht
Das Streikrecht ist nicht speziell gesetzlich geschützt, aber auch nicht ausdrücklich verboten, außer im Falle von Beschäftigten in wesentlichen Diensten.
Praxis
Während des Jahres 2019 hat ein Gericht dem Antrag von EasyJet im Zusammenhang mit einem Tarifkonflikt mit der Betriebsgewerkschaft stattgegeben und eine längere Ankündigungsfrist für einen Streik zugelassen, wobei auch die Art, Dauer und Uhrzeit der Protestaktion angegeben werden mussten. Diese Verzögerung und Informationen hat EasyJet genutzt, um 14 Piloten aus Belgien zu holen, die die 15 streikenden niederländischen Piloten ersetzen und ihre Flüge übernehmen sollten. Auf diese Weise ist es EasyJet gelungen, Flugannullierungen zu vermeiden und den Pilotenprotest im Keim zu ersticken.
Der Gewerkschaftsbund FNV berichtet, dass Streiks vielfach aus belanglosen Gründen eingeschränkt werden, wie etwa aufgrund angeblicher Sicherheitsrisiken, Unannehmlichkeiten für Reisende oder möglicher Auftragsrückgänge eines wichtigen Kunden.
Ein Generalstreik im öffentlichen Verkehrswesen, der fristgerecht angekündigt worden war, wurde beispielsweise auf Antrag der Flughafenbehörden Schiphol von einem Gericht eingeschränkt, obwohl der Flughafen selbst gar nichts mit dem Streik zu tun hatte. Angeblich aus Sicherheitsgründen wurden die Gewerkschaften verpflichtet, gegen den Willen des Bahnpersonals einen Pendelzug zum Flughafen zu organisieren. Das Gericht argumentierte zwar, dass das Ziel und die Wirksamkeit des Streiks dadurch nicht beeinträchtigt würden, aber durch diese Auflagen wurde die beabsichtigte Streikwirkung vermindert.
Nach Ansicht des FNV stellt dies nicht nur einen Verstoß gegen Artikel 6.4 der Europäischen Sozialcharta dar, sondern auch eine Verletzung der Kernübereinkommen der IAO zur Vereinigungsfreiheit.
Der Gewerkschaftsbund FNV hat einen zunehmenden Trend in Richtung auf betriebliche Vereinbarungen anstelle von Branchentarifverträgen beobachtet, um die Arbeitskosten im Gegenzug für Beschäftigungsfähigkeit möglichst gering zu halten. Die Unternehmen haben sich vielfach auf Wettbewerbs- und Beschäftigungsfähigkeit berufen, um ihre Angestellten dazu zu bringen, schlechtere Arbeitsbedingungen auf betrieblicher Ebene zu akzeptieren.
Darüber hinaus neigen Unternehmen wie Ryanair, Transavia, Jumbo, Gall & Gall, Action und Lidl laut FNV dazu, Tarifverhandlungen mit repräsentativen Gewerkschaften zu umgehen und stattdessen direkt mit den Betriebsräten zu verhandeln. Infolgedessen werde der Tarifprozess in den Niederlanden untergraben.
Angaben des Gewerkschaftsbundes FNV zufolge schütze das niederländische Arbeitsrecht zwar fest angestellte Beschäftigte vor einer Kündigung aufgrund einer Gewerkschaftsmitgliedschaft, aber dies gelte nicht für Gewerkschaftsmitglieder, die mit befristeten Verträgen beschäftigt sind oder Arbeit auf Abruf verrichten. In der Praxis komme es häufig vor, dass sich Unternehmen ihrer Beschäftigten entledigen, wenn sie für den FNV aktiv sind.
Ryanair hat seine niederländischen Beschäftigten während des Jahres 2018 bei zahlreichen Gelegenheiten bedroht und eingeschüchtert, um sie dazu zu zwingen, für streikende Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern einzuspringen. Wurde eine solche befristete Versetzung abgelehnt, wurde dies als grobes Fehlverhalten gewertet und mit einer Verwarnung geahndet. Im Falle einer wiederholten Verweigerung kam es zu einer disziplinarischen Kündigung.
Mehrere Unternehmen haben den Tarifprozess im Jahr 2018 vollkommen ignoriert und stattdessen direkt mit den Beschäftigten verhandelt. Die Supermarktkette Jumbo und Gall & Gall haben Verhandlungen mit den Gewerkschaften vermieden und auf die Unterzeichnung einer Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat gedrängt. Dasselbe hat der Discounter Lidl versucht. Plattformen wie Deliveroo, Helpling oder Temper haben sich Tarifverhandlungen konsequent widersetzt und stattdessen zu einer einseitigen Regelung der Arbeitsumstände und -bedingungen im Rahmen individueller Verträge gedrängt.
Ryanair hat systematisch echte Verhandlungen mit Gewerkschaften dadurch verhindert, dass unzumutbare Bedingungen angeboten und ein „Alles-oder-nichts-Ansatz“ verfolgt wurde, wie etwa bei Verhandlungen über einen Sozialplan. FME, der Arbeitgeberverband der Metall- und Elektronikbranche, hat die Gewerkschaft monatelang in Tarifverhandlungen verwickelt, nur, um dann am Ende 15 neue Forderungen zu unterbreiten. Durch das Einbringen neuer Forderungen, die zuvor nie erörtert worden waren, ist es Arbeitgeberorganisationen gelungen, Verhandlungen zu torpedieren, wodurch das Vertrauen zwischen den Parteien dauerhaft Schaden genommen hat.
Der niederländische Gewerkschaftsbund FNV hat mehrere Fälle von Diskriminierung und Einschüchterungen von Gewerkschaftsmitgliedern während des 2018 verurteilt. Bei der Supermarktkette Jumbo haben sich ein Angestellter und ein betrieblicher FNV-Vertreter geprügelt, was mit einer disziplinarischen Kündigung geahndet werden kann, wobei es übliche Praxis ist, alle Beteiligten in gleicher Weise zu bestrafen. In diesem Fall hat die Geschäftsleitung jedoch die Gelegenheit genutzt und nur den Gewerkschaftsvertreter entlassen. Bei Deliveroo wurden alle Bewerber außer zwei FNV-Mitgliedern eingestellt. Der niederländische Ambulanzdienst hat Gewerkschaftsmitglieder systematisch eingeschüchtert, während die Geschäftsleitung des Gebäudereinigungsunternehmens ISS mittels Entlassungen oder Versetzungen gezielt gegen alle Gewerkschaftsmitglieder vorging.
Der niederländische Gewerkschaftsbund FNV berichtet, dass die Gemeinde Hendrik-Ido-Ambacht im Jahr 2018 einen Streik als „Veranstaltung“ klassifiziert habe, so dass andere gesetzliche Bestimmungen als für Streiks gelten. Eine FNV-Mitgliedsorganisation, die einen Streik plante, musste somit detaillierte Bestimmungen bezüglich der Gesundheit und Sicherheit einhalten oder mit Strafen rechnen. Nach langem Hin und Her und etlichen Debatten mit der Gemeinde fand der Streik schließlich statt, aber der FNV betrachtet diese Art der missbräuchlichen Umklassifizierung als potenzielles Hindernis für die wirksame Wahrnehmung des Streikrechtes in der Zukunft.
Eine Mitgliedsorganisation des niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV hat vor einigen Jahren ein Gerichtsverfahren gegen die Regierung angestrengt, nachdem die niederländische Wettbewerbsbehörde NMA eine Stellungnahme veröffentlicht hatte, in der von Tarifverhandlungen über die Bedingungen von Leiharbeit (d.h. Tätigkeiten, die von Personen verrichtet werden, die nicht unbedingt der strikten Kontrolle des Arbeitgebers unterstehen und eventuell mehr als einen Arbeitsplatz haben) abgeraten wurde. Am 1. September 2015 erging ein Entscheid des Berufungsgerichtes in Den Haag, dem zufolge das Wettbewerbsgesetz nicht ausschließt, dass ein Arbeitgeber tarifvertraglich verpflichtet wird, die Bestimmungen des Tarifvertrages auch auf Selbstständige anzuwenden, vor allem, wenn es um bestimmte (Mindest-) Lohnsätze geht.
Trotz dieses Entscheides weigert sich die niederländische Behörde für Verbraucher und Markt (ACM, die Nachfolgebehörde der NMA) nach wie vor, das Tarifverhandlungsrecht von Selbstständigen, die Seite an Seite mit der Stammbelegschaft arbeiten, generell anzuerkennen. Sie verweigert beiden Gruppen von Beschäftigten ein faires Einkommen und gestattet oder fördert sogar Unterbietung. Dies stellt einen klaren Verstoß gegen die Normen der IAO und insbesondere gegen das IAO-Übereinkommen Nr. 98 dar. Die IAO hat die niederländische Regierung in diesem Zusammenhang vor kurzem daran erinnert, dass das Recht auf Tarifverhandlungen auch für Organisationen gelten sollte, die Selbstständige vertreten.
Der niederländische Gewerkschaftsbund FNV berichtet, dass mehrere Arbeitgeber während des Jahres 2017 gezielt Tarifverhandlungen mit repräsentativen Gewerkschaften umgangen und stattdessen Vereinbarungen mit Betriebsräten abgeschlossen hätten. Diese Praxis steht im Widerspruch zu IAO-Übereinkommen Nr. 98 und nimmt Tarifverhandlungen und Tarifverträgen jegliche Legitimität und Glaubwürdigkeit.
Im Februar 2017 haben Beschäftigte des Unternehmens Recticel, das Weichschaumstoffe, Isoliermaterial, Bettwaren und Kfz-Innenausstattung herstellt, gestreikt, woraufhin die Jahresendprämie nur an diejenigen ausgezahlt wurde, die sich nicht an dem Streik beteiligt hatten.
Derartige Vergeltungsmaßnahmen sind in den Niederlanden nicht unüblich. Der niederländische Gewerkschaftsbund FNV berichtet, dass mehrere Beschäftigte des Stahlproduzenten Buigcentrale Steenbergen nach einem Streik im November 2017 zurückgestuft worden seien.
Der FNV hat zudem Besorgnis über den zunehmenden Rückgriff auf Leiharbeitskräfte als Streikbrecher geäußert. Diese Praxis ist in den Niederlanden zwar verboten, aber der FNV beklagt, dass gegen Arbeitgeber, die gegen das Gesetz verstoßen, keine Strafen (z.B. Geldbußen) verhängt werden. Dies ist umso beunruhigender, als es an Kontrollen durch die Arbeitsaufsicht mangelt. In der Praxis haben es die Arbeitgeber leicht, die Folgen eines legitimen Streiks zu verhindern, während sie das Streikrecht der Arbeitnehmer in ernsthafter Weise untergraben.